Zum Wegwerfen zu schade

(c) Rhein Zeitung 2013
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Überreif, braune Flecken: Im Supermarkt hat diese Banane keine Chance mehr, im Einkaufskorb zu landen. Ihr Weg geht direkt in den Abfall. Das Ende? Nein! Es gibt Mülltaucher, die nach Ladenschluss im Abfall der Supermärkte nach Lebensmitteln suchen.

Mit einer Mischung aus Stolz und Entsetzen stehen die vier Studenten vor dem kleinen Lebensmittelberg auf dem nächtlichen Supermarktparkplatz. Sie haben Salatköpfe, Tomaten, Paprika, Kartoffeln, Champignons, unzählige Äpfel, Kiwis, Gurken, Gewürze und sogar zwei Tetrapaks Grapefruitsaft und eine Packung Kekse aus dem Container herausgeholt.


Containern, Mülltauchen oder Dumpstern beschreibt die Suche nach noch brauchbaren Lebensmitteln in Abfallcontainern von Supermärkten. Weggeworfen werden die Sachen meist aufgrund von Druck- oder Gammelstellen, weil das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen oder weil der Überschuss zu groß ist. Viele dieser Lebensmittel sind aber trotzdem noch ohne gesundheitliches Risiko genießbar. Nicht nur bedürftige Menschen tauchen in die Container ab. Auch viele politisch Interessierte und Engagierte, die finanziell nicht darauf angewiesen sind, gehen in den Containern auf die Suche.

Man weiß nie, was man im Container findet

Es ist kurz nach 22 Uhr: Dominik, Simeon, Greta und Laurence sitzen gemütlich in einer Koblenzer Studentenkneipe zusammen, als Dominik auf die Uhr schaut und meint: „Ich glaube, wir können uns auf den Weg machen.“ Die vier brechen zu ihrer nächtlichen „Einkaufstour“ auf. Bepackt mit Rucksäcken, Tüten und Taschenlampen geht es los. Die Stimmung ist ausgelassen, fast wie auf einem Ausflug. „Ich hätte gern Bananen“, sagt Dominik. Die Wunschliste der vier ist groß. Doch was sie am Ende des Abends im Rucksack haben, wissen die Mülltaucher vorher nie. „Es ist immer eine große Überraschung, was wir finden und vor allem, wie viel wir finden“, sagt Dominik.

Knapp 11 Millionen Tonnen Lebensmittel werden laut einer Studie der Universität Stuttgart pro Jahr in Deutschland weggeworfen. Jeder zweite Kopfsalat, jede zweite Kartoffel, jedes fünfte Brot. Laut Studie entstehen allein 61 Prozent dieser Lebensmittelabfälle in den Privathaushalten. Das sind rund 6,7 Millionen Tonnen. Jeder Bundesbürger wirft im Schnitt 81,6 Kilogramm Lebensmittel in den Müll.

Bei den Supermärkten ist es vor allem Obst und Gemüse, das in der Tonne landet. „Wir finden hauptsächlich Obst und Gemüse. Manchmal sind auch ein paar Joghurts dabei, die gerade abgelaufen sind“, sagt Dominik. Sein kuriosester Fund war nach der Weihnachtszeit: „Wir haben eine ganze Palette mit Lindt-Weihnachtsschokolade gefunden“, sagt er, „die haben wir am Ende an der Uni verteilt.“

Mit der kleinen roten Kurbeltaschenlampe leuchten sie in die Mülltonne (c) Nina Borowski 2013
Mit der kleinen roten Kurbeltaschenlampe leuchten sie in die Mülltonne (c) Nina Borowski 2013

Mittlerweile haben die vier auf ihrer nächtlichen Einkaufsroute feste Anlaufstellen. Am ersten Supermarkt angekommen, öffnet Simeon den Deckel einer hüfthohen grünen Mülltonne. Auf den ersten Blick kommt das Gefühl auf, im Supermarkt an der Obst- und Gemüsetheke zu stehen: Unter dem Deckel kommen Salat, Paprika und Tomaten zum Vorschein. Es riecht weder nach Müll, noch sieht es so aus. Schlecht sind die Sachen keineswegs. „Für mich ist das kein Müll, auch wenn es in der Tonne gelegen hat“, sagt Simeon. Ekel oder Berührungsängste hat er nicht. Mit geübten Handgriffen suchen die vier das noch brauchbare Gemüse heraus. Die am Anfang noch leeren Taschen und Rucksäcke füllen sich rasch mit dem Gemüse. Im nebenstehenden Container haben sie heute weniger Erfolg. Dominik leuchtet mit seiner kleinen Kurbeltaschenlampe in das Innere des Containers: „Hier ist wirklich nur Müll drin.“ Bepackt mit dem ersten Teil ihrer Beute ziehen die vier weiter zum nächsten Supermarkt.

Die jungen Leute werden nicht von der Geldnot zum Containern gezwungen. Sie tauchen aus Überzeugung in die Tonnen. „Ich mache das, weil ich die Verschwendung furchtbar finde“, sagt Dominik und ergänzt: „Ich kann einfach nicht akzeptieren, dass so unglaublich viel weggeworfen wird.“ Das Thema beschäftigt ihn schon lange. „Ich wollte das auch gern mal selbst ausprobieren, aber nicht allein“, sagt Dominik. An der Uni hat er Gleichgesinnte getroffen. „Wir haben uns langsam herangetastet“, sagt er. Seitdem waren sie einige Male nach Ladenschluss „einkaufen“, wie sie es nennen. „Seit Januar war ich nur zweimal im Supermarkt etwas einkaufen. Ich gehe drei- bis viermal die Woche containern und kann davon sehr gut leben“, sagt der Student.

In seinem Monatsbudget plant er nur noch 20 Euro für Lebensmittel ein. „Ich kaufe nur noch Grundnahrungsmittel wie Öl oder Getreideprodukte“ sagt er: „Selbst Nudeln oder Reis haben wir schon containert.“ Allein sind sie mit der Einstellung nicht – an der Uni in Koblenz gibt es einige Mülltaucher, die mittlerweile regelmäßig die Abfalltonnen durchsuchen.

In den vergangenen Jahren ist die Lebensmittelverschwendung mit verschiedenen Büchern und zuletzt mit dem Film „Taste the Waste“ stärker ins Bewusstsein vieler Verbraucher gerückt. Unter dem Titel „Zu gut für die Tonne“ startete das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz im vergangenen Jahr eine Informationskampagne für Verbraucher. Praktische Tipps im Umgang mit Lebensmitteln vom Einkauf über die richtige Lagerung bis hin zur Verarbeitung will Verbraucherministerin Ilse Aigner den Haushalten dort mit auf den Weg geben.

Auf den ersten Blick ist an den Orangen nichts zu erkennen. (c) Nina Borowski
Auf den ersten Blick ist an den Orangen nichts zu erkennen. (c) Nina Borowski

Müllsack für Müllsack wird abgetastet

Auch Anna und Maria sind auf ihrer nächtlichen „Einkaufstour“ unterwegs. Der Parkplatz ist nur schwach beleuchtet. Hier und da stehen noch parkende Autos. Im Supermarkt ist bereits alles dunkel. Im Halbdunkel hinter dem Gebäude steht ein großer blauer Container. Die Deckel sind nur angelehnt. Anna hält die Taschenlampe und drückt den Containerdeckel nach oben. Maria tastet Müllsack für Müllsack ab. Die beiden bemerken gar nicht, dass eine Gruppe von vier Frauen auf den Parkplatz kommt und eines der geparkten Fahrzeuge ansteuert. Die Gruppe schaut zum Container hinüber. Die Frauen unterhalten sich. Wahrscheinlich fragen sie sich, was die zwei Gestalten am Container machen. Ohne aber etwas zu unternehmen, steigt die Gruppe in das Auto und fährt davon.

Containern ist eine rechtliche Grauzone. Eigentlich machen sich die Mülltaucher strafbar, weil sie sich auf fremdem Gelände bewegen und der „Müll“ Eigentum des Supermarktes ist. Doch strafrechtlich verfolgt wurde bisher kein Fall. „Ein Unrechtsbewusstsein habe ich nicht“, sagt Maria und ergänzt: „Ich fühle mich bei dem, was ich tue, im Recht und würde das auch so verteidigen.“ Mit jedem Mal ist es für sie selbstverständlicher geworden, nach Ladenschluss „einkaufen“ zu gehen. „Am Anfang hatte ich immer Angst, erwischt zu werden. Da haben wir uns ständig umgedreht, haben auf jedes noch so kleine Geräusch geachtet“, sagt Anna, die oft mit Maria unterwegs ist. „Wir haben uns versteckt, wenn jemand kam“, erzählt Maria lachend. Beherzt packt sie einen der blauen Müllsäcke.

Gezielt tasten ihre Hände den Sack im Schein der Taschenlampe ab. „Da ist nur Müll drin – der ist zu leicht“, sagt sie. Mit geübten Handgriffen zieht sie diverse Salatköpfe, Champignons, Äpfel, Tomaten und sogar Kiwis aus dem nächsten Müllsack. „Am Anfang war ich sehr wählerisch. Da habe ich mit spitzen Fingern Dinge herausgesucht. Heute ist das anders. Ich habe die Hemmschwelle überwunden. Für mich ist das kein Müll mehr.“

Um wirklich alle noch brauchbaren Lebensmittel aus dem Container zu retten, geht es auch mal bis tief in den Container hinein. (c) Nina Borowski 2013
Um wirklich alle noch brauchbaren Lebensmittel aus dem Container zu retten, geht es auch mal bis tief in den Container hinein. (c) Nina Borowski 2013

Das Gespräch mit dem Chef des Supermarkts gesucht

Ähnlich wie Maria hat auch Simeon keinerlei Unrechtsbewusstsein beim Mülltauchen. „Ich würde es immer wieder machen.“ Simeon, Greta und Laurence sind schon ein paar Mal erwischt worden. „Die Sicherheitsleute haben uns aufgegabelt und die Polizei gerufen. Die waren aber sehr nett und verständig, mussten uns aber wegschicken“, sagt Simeon. Nachdem sie das letzte Mal auf dem Gelände von Konrad Kreuzberg, einem Koblenzer Unternehmer, erwischt worden sind, haben die drei das Gespräch gesucht: „Wir haben Herrn Kreuzberg einen Brief geschrieben, indem wir ihm erklärt haben, warum wir das machen, und den Film ,Taste the Waste' mitgeschickt.“

Für Konrad Kreuzberg war das Thema Containern Neuland: „Damit konnte ich nichts anfangen. Ich habe die jungen Menschen eingeladen, einfach weil mich das interessiert hat. Ich wollte wissen, wie junge Menschen heute leben, was sie machen.“

Damit hatten die drei nicht gerechnet. „Es war ein Gespräch auf Augenhöhe“, erzählt Greta. „Ihn hat wirklich interessiert, was wir zu sagen haben.“ Kreuzberg war es bei dem Gespräch auch wichtig, seine Situation als Unternehmer zu erklären. „Es gibt keinen Menschen und kein System auf der Welt, das so kalkulieren kann, dass abends alle Lebensmittel verkauft sind“, sagt Konrad Kreuzberg: „Deshalb habe ich auch nichts dagegen, wenn ich weiß, dass die jungen Leute so was machen. Und da mache ich dann schon mal beide Augen zu.“ Denn erlauben darf er ihnen das nicht.

Die Lebensmittelhygiene Verordnung (LMHV) in Deutschland stellt genaue Regeln für die Herstellung und den Verkauf von Lebensmitteln auf. Ein Lebensmittelhändler wie Kreuzberg unterliegt bei unverpackten Waren, die ohne vorheriges Waschen, Schälen oder Erhitzen verzehrt werden können, einer besonderen Sorgfaltspflicht. Die LMHV und auch die EU-Verordnungen haben das Ziel, eine einwandfreie Beschaffenheit von Lebensmitteln für den Verbraucher sicherzustellen. „Wenn zum Beispiel in einer Packung Tomaten eine matschig ist, muss ich die gesamte Packung wegwerfen, weil auf den anderen Schimmelsporen sein könnten, die man aber mit dem bloßen Auge nicht sehen kann“, erklärt Kreuzberg seine unternehmerische Sorgfaltspflicht.

Wenn eine matschig ist, muss laut Vorschrift die ganze Packung weggeworfen werden. (c) Nina Borowski 2013
Wenn eine matschig ist, muss laut Vorschrift die ganze Packung weggeworfen werden. (c) Nina Borowski 2013

Laurence hält eine Packung Tomaten in der Hand. Eine ist matschig, die anderen fünf sehen auf den ersten Blick tadellos aus. Sie reißt die Folie ab und riecht an den Tomaten. „Die sehen noch gut aus“, sagt sie und sortiert die eine nicht mehr ansehnliche aus. Die restlichen fünf wandern auf den Stapel zu dem anderen Gemüse. Sie dürfen mit. Die Mülltaucher sind mittlerweile an der zweiten Station des Abends angekommen. Auf dem Gelände stehen zwei große blaue Container. Auch hier sind die Deckel nur angelehnt. „Ich hab jede Menge Äpfel“, ruft Greta triumphierend von der einen Seite des Containers. Dominik und Laurence entdecken an der anderen Seite frische Champignons.

Neben den ethischen Beweggründen gehört zum Containern auch so etwas wie Abenteuerlust. Die Angst und der gleichzeitige Reiz, etwas Verbotenes zu tun. Die vier sind vollkommen in ihrem Element. Auf vorbeifahrende Autos achten sie nicht. Sie scheinen das, was um sie herum passiert, völlig ausgeblendet zu haben. Ihre Konzentration liegt für den Moment voll auf den Containern und der Suche nach noch brauchbaren Lebensmitteln. Simeon ist bereits am zweiten Container, zieht einen blauen Sack heraus und tastet: „Hier sind die Brötchen drin“, ruft er den anderen zu. Beherzt reißt er den Sack auf. Unweigerlich strömt einem der Duft frischer Brötchen entgegen. Allein der Geruch vermittelt das Gefühl, gerade in einer Bäckerei zu stehen. „Die sind ganz frisch“, sagt Greta, greift in den Sack und fühlt, „die sind noch lauwarm.“ In den Gesichtern der Mülltaucher spiegelt sich eine Mischung aus Freude und Entsetzen.

Gekocht wird, was der Container hergibt

Seitdem sie containern gehen, hat sich für sie vieles verändert. „Wenn ich einkaufen gehe, gehe ich viel bewusster mit den Lebensmitteln um. Wenn ich vorher einen Apfel mit einer braunen Stelle liegen gelassen habe, würde ich ihn heute trotzdem nehmen, weil ich weiß, dass er sonst auf dem Müll landet“, sagt Dominik. Das ganze Thema Ernährung hat für die Gruppe eine neue Bedeutung bekommen. „Ich esse seitdem viel mehr Obst und Gemüse“, sagt Simeon. Maria empfindet es als geradezu befreiend, dass sie sich keine Gedanken mehr darüber machen muss, was sie einkauft: „Ich schaue einfach, was im Container ist, und koche daraus dann was. Ich probiere seitdem viel mehr aus.“ Nachdenklich schaut Dominik auf den kleinen Lebensmittelberg. So groß die Freude über die reichliche Ausbeute auch sein mag, für ihn steht fest: „Es wäre das Schönste für mich, wenn wir eines Abends vor einem leeren Container stehen würden.“

(erschienen in der Rhein-Zeitung am 18.Mai 2013)

Die Ausbeute nach einer nächtlichen Einkaufstour durch die Container. (c) Nina Borowski 2013
Die Ausbeute nach einer nächtlichen Einkaufstour durch die Container. (c) Nina Borowski 2013

Diese Reportage wurde im April 2014 mit dem Förderpreis des Verbands der Zeitungsverleger in Rheinland-Pfalz und dem Saarland ausgezeichnet.


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